Jean Jaurès: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“

Jean Jaurès war ein Sozialist und Pazifist in Frankreich. Er lebte von 1859 bis 1914. Er warnte vor den sinnlosen Schlachten zwischen Deutschen und Franzosen. Jacques Brel komponierte ein Lied für ihn … über ihn … „Jojo six pieds sous terre tu n‘ est pas mort.“ Jean Jaurès wurde in einem Cafè in Paris 1914 – kurz vor Beginn des ersten Weltkrieges ermordet. Von einem Nationalisten. Dieses Schicksal teilt er mit vielen Männern und Frauen im letzten Jahrhundert auf allen Kontinenten … auch mit Jitzchak Rabin, geboren in Jerusalem 1922, hochrangiger General und Präsient Israels, erstmals von 1974 bis 1977 und von 1992 bis 1995 … bis zu seiner Ermordung durch einen Nationalisten. Er sagte: „Der Weg des Friedens ist dem Weg des Krieges vorzuziehen. Ich sage euch dies als jemand, der 27 Jahre lang ein Mann des Militärs war.“

Stefan Zweig schreibt 1916 über Jean Jaurès:

Vor acht oder neun Jahren, in der Rue St. Lazare, sah ich ihn zum erstenmal. Es war sieben Uhr abends, die Stunde, da der stahlschwarze Bahnhof mit dem funkelnden Zifferblatt plötzlich die Masse wie ein Magnet an sich reißt. Die Ateliers, die Häuser, die Geschäfte schütten mit einemmal alle ihre Menschen auf die Gasse, und alle strömen sie, ein schwarz aufgewühlter Strom, den Zügen zu, die sie aus der dampfigen Stadt ins Freie tragen. Ich würgte mich mit einem Freunde langsam durch den stickigen, drückenden Menschenqualm, als er mich plötzlich leicht anstieß: »Tiens! V’la Jaurès!« Ich sah auf, aber schon war es zu spät, die Silhouette des Vorbeischreitenden zu haschen. Nur den breiten Rücken, wie den eines Lastträgers, gewaltige Schultern, den kurzen, gedrungenen Stiernacken sah ich von ihm, und mein erstes Empfinden war das einer bäuerischen, unerschütterlichen Kraft. Die Aktentasche unter dem Arm, den kleinen, runden Hut auf dem mächtigen Haupt, ein wenig gebückt, wie der Bauer hinter dem Pflug, und ebenso zäh wie er, stapfte und stieß er sich langsam und unerschütterlich durch die ungeduldige Menge. Niemand erkannte den großen Tribun, Burschen schoben hastig an ihm vorbei, Eilfertige überholten ihn, rannten ihn im Laufe an, sein Schritt blieb unerschütterlich fest in seinem schweren Takt. Der Widerstand der schwarz fließenden, stark strömenden Masse brach sich wie an einem Felsblock an diesem kleinen, gedrungenen Mann, der hier allein für sich ging und seinen ureigenen Acker pflügte: die dunkle, unbekannte Menge von Paris, das Volk, das zur Arbeit ging und von der Arbeit kam.

Von diesem flüchtigen Begegnen blieb nichts zurück in mir als das Empfinden unbeugsamer, erdfester, zielstrebiger Kraft. Bald sollte ich ihn besser sehen, sollte kennen lernen, daß diese Kraft nur ein Fragment seines komplexen Wesens war. Freunde hatten mich zu Tisch gebeten, wir waren vier oder fünf in dem engen Raum, plötzlich trat auch er herein und von diesem Augenblick gehörte alles ihm, das Zimmer, das seine volle Stimme tönend füllte, und unsere Aufmerksamkeit an Wort und Blick, denn seine Herzlichkeit war so stark, so offenbar seine Gegenwart, so warm von innerer Lebensfülle, daß jeder unbewußt sich in der seinen gereizt und gesteigert fühlte.

Er kam gerade vom Lande, sein breites, offenes Gesicht, in dem die Augen tief und klein und doch scharf blitzend saßen, hatte die frischen Farben der Sonne, und sein Handschlag war der eines freien Mannes, nicht höflich, sondern herzlich. Jaurès schien damals ganz besonders frohgestimmt, er hatte draußen, in seinem Gärtchen mit Hacke und Spaten arbeitend, Kraft und Lebensfrische sich neu ins Blut getränkt, und nun teilte er sich und sie mit der ganzen Generosität seines Wesens aus. Für jeden hatte er eine Frage, ein Wort, eine Herzlichkeit, ehe er von sich selber sprach, und es war wunderbar zu spüren, wie er unbewußt erst Wärme und Lebendigkeit um sich schuf, daß er dann in ihr seine eigene Belebtheit frei und schöpferisch entfalten könnte.

Ich entsinne mich noch deutlich, wie er sich plötzlich mir zuwandte, denn in dieser Sekunde sah ich zum erstenmal in seine Augen hinein. Sie waren klein, aber trotz ihrer Güte wach und scharf, sie griffen einen an, ohne weh zu tun, sie drangen ein, ohne zudringlich zu sein. Er erkundigte sich nach einigen seiner Wiener Parteifreunde, ich mußte bedauernd sagen, sie nicht persönlich zu kennen. Dann fragte er mich nach der Baronin Suttner, die er sehr zu schätzen schien, und ob sie bei uns im literarischen und politischen Leben einen tatsächlichen, wirklich fühlbaren Einfluß hätte. Ich antwortete ihm – und bin heute mehr als je gewiß, ihm nicht nur mein persönliches Empfinden, sondern eine Wahrheit gesagt zu haben – daß man bei uns für den wundervollen Idealismus dieser edlen und seltenen Frau wenig tätiges Verständnis habe. Man schätze sie, aber mit einem leichten Lächeln der Überlegenheit, man achte ihre Überzeugungen, ohne sich aber innerlich überzeugen zu lassen, im letzten finde man ihr stetes Beharren auf einer und derselben Idee etwas eintönig. Und ich verschwieg ihm nicht mein Bedauern, daß gerade die Besten unserer Literatur und Kunst sie immer als abseitig und gleichgültig betrachteten.

Jaurès lächelte und sagte: »Aber gerade so muß man sein wie sie, hartnäckig und zäh im Idealismus. Die großen Wahrheiten gehen nicht auf einmal ins Gehirn der Menschheit hinein, man muß sie immer und immer wieder einhämmern, Nagel für Nagel, Tag für Tag! Es ist eine monotone und undankbare Arbeit, aber wie wichtig ist sie doch!«

Man ging über zu anderen Dingen, und das Gespräch blieb unentwegt belebt, solange er mit uns war, denn was immer er sagte, es kam von innen, heiß und warm aus einer vollen Brust, einem stark schlagenden Herzen, aus gestauter, gesammelter Lebensfülle, aus einer wunderbaren Mischung von Bildung und Kraft. Die breite, aufgewölbte Stirn gab seinem Antlitz Ernst und Bedeutung, das freie, heitere Auge diesem Ernst wieder Güte, eine wohltuende Atmosphäre von fast kleinbürgerlicher Jovialität strömte aus diesem machtvollen Menschen, von dem man gleichzeitig aber immer spürte, daß er in Zorn oder Leidenschaft wie ein Vulkan Feuer aus sich schütten könnte. Immer empfand ich, daß er, ohne sich zu verstellen, seine eigentliche Macht in sich zurückbehielt, daß der Anlaß zu eng war für seine Entfaltung (so ganz er sich auch im Gespräch gab), daß wir zu wenig waren, um seine ganze Fülle zu reizen, und der Raum zu eng für seine Stimme. Denn wenn er lachte, schütterte das Zimmer. Es war wie ein Käfig für diesen Löwen. Nun hatte ich ihn von nah gesehen, ich kannte seine Bücher, die in ihrer gedrungenen Breite, ihrer Schwerwuchtigkeit ein wenig seinem Körper glichen, ich hatte viele seiner Artikel gelesen, die mich den Impetus seiner Rede ahnen ließen, und um so stärker war mein Verlangen, ihn nun einmal auch in seiner gemäßen Welt, in seinem Element, ihn als Agitator und Volksredner zu sehen und zu hören. Die Gelegenheit bot sich bald.

Es waren wieder schwüle Tage in der Politik, es knisterte neuerdings in den Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland. Irgend etwas war wieder vorgefallen, an irgendeinem flüchtigen Anlaß hatte sich die phosphorne Fläche der französischen Empfindlichkeit wieder angeflammt, ich weiß nicht mehr, war es der »Panther« in Agadir, der Zeppelin in Lothringen, die Episode von Nancy, aber es flackerte und funkelte wieder auf. In Paris, in dieser ewig erregten Atmosphäre, spürte man diese Wetterzeichen damals ungleich stärker als unter dem idealistisch-blauen politischen Himmel Deutschlands. Die Austräger mit ihren gellen Schreien trieben scharfe Keile in die Mengen der Boulevards, die Zeitungen peitschten mit heißen Worten, fanatischen Überschriften, knallten mit Drohungen und Überredungen die Erregung auf. An den Mauern klebten zwar die brüderlichen Manifeste der deutschen und französischen Sozialisten, klebten freilich selten länger als einen Tag, denn nachts rissen die Camelots du roi sie herab oder beschmutzten sie mit Hohnworten. In diesen erregten Tagen sah ich eine Rede Jaurès’ angekündigt: in den Augenblicken der Gefahr war er immer zur Stelle.

Das Trocadero, der größte Saal von Paris, sollte seine Tribüne sein. Dieses absurde Gebäude, dieser Nonsens orientalisch-europäischen Stiles, ein Rest der alten Weltausstellung, der mit seinen beiden Minaretten über die Seine dem andern historischen Überrest, dem Eiffelturm, zuwinkt, tut innen einen leeren, nüchternen, kalten Raum auf. Er dient meist musikalischen Veranstaltungen und selten dem gesprochenen Wort, denn die hohle Luft schluckt dort die Rede fast restlos ein, nur ein Riese der Stimme, ein Mounet-Sully, vermochte sein Wort von der Tribüne bis hinauf zu den Galerien zu schleudern wie ein Tau über einen Abgrund. Dort sollte diesmal Jaurès sprechen, und früh füllte sich der gigantische Saal. Ich weiß nicht mehr, ob es ein Sonntag war, aber in Festtagsgewändern kamen sie, die sonst in blauen Blusen hinter Kesseln und in Fabriken ihr Tagewerk tun, die Arbeiter von Belleville, von Passy, von Montrouge und Cluchy, ihren Tribunen, ihren Führer zu hören. Schwarzgedrängt war der riesige Raum lang vor der bestimmten Stunde und nicht wie in den modischen Theatern das Scharren der Ungeduld, das fordernde rhythmische, stockbegleitete »Le rideau«! »Le rideau«!-Rufen um den Beginn. Es wogte nur, gewaltig und erregt, erwartungsvoll und doch voll Zucht – ein Anblick selbst schon unvergeßlich und schicksalsträchtig. Dann trat ein Redner vor, eine Schärpe quer über die Brust, Jaurès anzukündigen, man hörte ihn kaum, aber sofort fiel Stille nieder, eine gewaltige atmende Stille. Und dann kam er.

Mit dem schweren, festen Schritt, den ich nun schon an ihm kannte, stieg er zur Tribüne, stieg aus einer atemlosen Stille in einen ekstatischen, dröhnenden Donner der Begrüßung empor. Der ganze Saal war aufgestanden, und was da schrie, waren mehr als menschliche Stimmen, es war die gesparte gespannte Dankbarkeit, die Liebe und die Hoffnung einer Welt, die sonst verteilt und zerrissen, in Schweigen und Seufzen vereinzelt ist. Er mußte warten, Jaurès, Minuten und Minuten, ehe er seine Stimme loslösen konnte aus den lausenden Schreien, die ihn umstürmten, er mußte warten und wartete ernst, beharrlich, der Stunde bewußt, ohne das freundliche Lächeln, ohne die falsche Abwehr, die Komödianten in solchen Augenblicken in ihre Gebärde tun. Dann erst, als die Woge verrauschte, hub er an.

Es war nicht seine Stimme von damals, die sprach, die im Gespräch Scherz und bedeutendes Wort freundlich vermengte, es war jetzt eine andere Stimme, stark, knapp, vom Atem scharf durchfurcht, eine Stimme, metallen wie Erz. Nichts von Melodie war in ihr, nicht jene vokalische Geschmeidigkeit, die bei Briand, seinem gefährlichen Genossen und Gegner, so verführt, sie war nicht geschliffen und schmeichelte nicht den Sinnen, nur Schärfe fühlte man in ihr, Schärfe und Entschlossenheit. Manchmal riß er ein einzelnes Wort aus der feurigen Esse seiner Rede wie ein Schwert heraus und stieß es in die Menge, die aufschrie, im Herzen getroffen von diesem wuchtigen Stoß. Nichts war moduliert in diesem Pathos, es fehlte dem Kurznackigen vielleicht der biegsame Hals, um die Melodik des Organs zu läutern, bei ihm schien die Kehle schon in der Brust zu sitzen, aber darum empfand man auch so sehr, daß sein Wort von innen kam, stark und erregt, aus einem starken und erregten Herzen, es keuchte oft noch vor Zorn, es bebte immer noch vom Herzschlag seiner breiten, stark gehämmerten Brust. Und diese Vibration griff weiter aus seinem Wort in sein ganzes Wesen, sie stieß ihn fast von der Stelle, er schritt auf und nieder, hob die geballte Faust wider einen unsichtbaren Feind und ließ sie auf den Tisch fallen, als zerschmetterte sie ihn. Das ganze Dampfwerk seines Wesens arbeitete immer mächtiger in diesem Aufundniedergehen eines gereizten Stieres und unwillkürlich ging der gewaltige Rhythmus dieser erbitterten Erregung in die Masse über. Immer stärker antworteten ihre Schreie seinem Ruf, und wenn er seine Faust ballte, so krümmten sich vielleicht viele mit. Der kalte, weite, leere Saal war mit einemmal voll der Erregung, die dieser einzige starke, von seiner eigenen Kraft bebende Mensch mitbrachte, und immer stieß die scharfe Stimme wieder wie eine Trompete über die dunklen Regimenter der Arbeit hin und riß ihre Herzen zur Attacke. Ich hörte kaum, was er sagte, ich horchte nur über den Sinn hinaus in die Gewalt dieses Willens und fühlte mich heiß werden an ihm, so fremd mir, dem Fremden, der Anlaß war und die Stunde. Aber ich spürte einen Menschen, wie ich nie einen stärker gespürt, ich spürte ihn und die unendliche Macht, die von ihm ausging. Denn hinter diesen wenigen Tausenden, die jetzt in seinem Bann waren, untertan seiner Leidenschaft, standen noch die Tausende der Tausende, die seine Macht von ferne spürten, übertragen durch die Elektrizität des fortwirkenden Willens, die Magie des Wortes – die ungezählten Legionen des französischen Proletariats und darüber hinaus ihre Genossen jenseits der Grenzen, die Arbeiter von Whitechapel, von Barcelona und Palermo, von Favoriten und St. Pauli, aus allen Windrichtungen oder Winkeln der Erde, die diesem, ihrem Tribunen, vertrauten und bereit waren, jederzeit ihren Willen in den seinen zu geben.

Breitschultrig, vierschrötig, in sich zusammengeballt, wie er körperlich war, mochte Jaurès denen der Rasse nach nicht als echter Gallier erscheinen, die mit dem Typus des Franzosen einzig die Vorstellung der Zartheit, Feinnervigkeit und Geschmeidigkeit verbinden. Aber nur als Franzose, in seiner Erde, nur im Zusammenhang, nur als Repräsentant, als Letzter einer Ahnenreihe ist er ganz zu erfassen. Frankreich ist das Land der Traditionen, selten ist dort ein großes Phänomen, ein bedeutender Mensch ganz neu, jeder knüpft an ein Vorgeahntes und Vorgelebtes, jedes Ereignis hat seine Analogie (und unschwer wird man in seinem jetzigen Fanatismus, in der blindwütigen Ausblutung um einer einzigen Idee willen Analogien zu 1793 erkennen). Hier ist seine große Wegscheide des Wesens gegen Deutschland. Frankreich reproduziert sich unablässig, und darin liegt das Geheimnis der Erhaltung seiner Tradition, darum ist Paris eine Einheit, seine Literatur eine geschlossene Kette, seine innere Geschichte eine rhythmische Wiederholung von Ebbe und Flut, von Revolution und Reaktion. Deutschland dagegen entwickelt und verwandelt sich unablässig, und das ist das Geheimnis der steten Steigerung seiner Kraft. In Frankreich kann man alles, ohne gewaltsam zu werden, auf Analogien zurückführen, in Deutschland nichts, denn kein seelischer Zustand gleicht dort dem andern, zwischen 1807, 1813, 1848, 1870 und 1914 liegen ungeheure Verwandlungen, die seine Kunst, seine Architektur, seine Schichtung bis in die Fundamente verändert haben. Selbst seine Menschen sind jeder einzigartig und neu, für Bismarck, Moltke, Nietzsche, Wagner gibt es kein Präzedens in der deutschen Geschichte, und die Männer dieses Krieges sind wiederum Anfänge eines neuen organisatorischen Typs, nicht Wiederholungen eines vergangenen.

Aber dieser Urfranzose, der Jaurès unverkennbar gewesen, war durchtränkt mit deutscher Philosophie, deutscher Wissenschaft und deutschem Wesen. Nichts ermächtigt Spätere, zu behaupten, daß er Deutschland liebte, aber eines ist gewiß: er kannte Deutschland, und dies ist schon in Frankreich viel. Er kannte deutsche Menschen, deutsche Städte, deutsche Bücher, er kannte das deutsche Volk und kannte, als einer der Wenigen im Ausland, seine Kraft. Darum war allmählich der Gedanke, den Krieg zwischen diesen beiden Mächten zu verhindern, sein Lebensgedanke, seine Lebensangst geworden, und was er in den letzten Jahren tat, war nur zur Verhinderung dieses Augenblicks. Er kümmerte sich nicht um Schmähungen, ließ sich geduldig den »député de Berlin« nennen, den Emissär Kaiser Wilhelms, er ließ sich höhnen von den sogenannten Patrioten und griff schonungslos die Zettler des Krieges, die Hetzer und Schürer an. Er kannte nicht den Ehrgeiz des Advokaten-Sozialisten Millerand, sich Orden an die Brust zu heften, nicht die Ambition seines einstigen Genossen, des Gastwirtssohnes Briand, der aus dem Agitator in den Diktator sich verwandelte, er wollte seine breite freie Brust nie in den Palmenfrack zwängen, sein Ehrgeiz blieb, das Proletariat, das ihm vertraute, und die ganze Welt vor der Katastrophe zu schützen, deren Minen und Gänge er unter seinen eigenen Füßen, in seinem eigenen Lande graben hörte. Während er sich so mit dem ganzen Elan Mirabeaus, mit der Glut Dantons gegen die Anstifter und Aufreizer warf, mußte er gleichzeitig auch in der eigenen Partei dem Übereifer der Antimilitaristen in den Weg treten, Hervé vor allem, der damals so laut und gellend zur Revolte rief, wie er heute täglich nach dem »endgültigen Siege« schreit. Jaurès war über ihnen allen, er wollte keine Revolution, weil auch sie nur mit Blut zu erringen war, und er scheute das Blut. Er glaubte, Schüler Hegels, an die Vernunft, an den sinnvollen Fortschritt durch Beständigkeit und Arbeit, das Blut war ihm heilig und der Völkerfriede sein religiöses Bekenntnis. Kraftvoller, unermüdlicher Arbeiter, der er war, hatte er die schwerste Pflicht auf sich genommen, der Besonnene zu bleiben in einem leidenschaftlichen Land, und kaum daß der Friede bedroht war, stand er wie immer aufrecht als Posten, Alarm zu rufen in der Gefahr. Schon war der Schrei in seiner Kehle, der das Volk Frankreichs aufrufen sollte, da warfen sie ihn hin aus dem Dunkel, die ihn kannten in seiner unerschütterlichen Kraft und die er kannte, in ihren Absichten und Abenteuern. Solange er wachte, war die Grenze gesichert. Das wußten sie. Und erst über seine Leiche stürmte der Krieg, stießen die sieben deutschen Armeen nach Frankreich hinein.

Aber dieser Urfranzose, der Jaurès unverkennbar gewesen, war durchtränkt mit deutscher Philosophie, deutscher Wissenschaft und deutschem Wesen. Nichts ermächtigt Spätere, zu behaupten, daß er Deutschland liebte, aber eines ist gewiß: er kannte Deutschland, und dies ist schon in Frankreich viel. Er kannte deutsche Menschen, deutsche Städte, deutsche Bücher, er kannte das deutsche Volk und kannte, als einer der Wenigen im Ausland, seine Kraft. Darum war allmählich der Gedanke, den Krieg zwischen diesen beiden Mächten zu verhindern, sein Lebensgedanke, seine Lebensangst geworden, und was er in den letzten Jahren tat, war nur zur Verhinderung dieses Augenblicks. Er kümmerte sich nicht um Schmähungen, ließ sich geduldig den »député de Berlin« nennen, den Emissär Kaiser Wilhelms, er ließ sich höhnen von den sogenannten Patrioten und griff schonungslos die Zettler des Krieges, die Hetzer und Schürer an. Er kannte nicht den Ehrgeiz des Advokaten-Sozialisten Millerand, sich Orden an die Brust zu heften, nicht die Ambition seines einstigen Genossen, des Gastwirtssohnes Briand, der aus dem Agitator in den Diktator sich verwandelte, er wollte seine breite freie Brust nie in den Palmenfrack zwängen, sein Ehrgeiz blieb, das Proletariat, das ihm vertraute, und die ganze Welt vor der Katastrophe zu schützen, deren Minen und Gänge er unter seinen eigenen Füßen, in seinem eigenen Lande graben hörte. Während er sich so mit dem ganzen Elan Mirabeaus, mit der Glut Dantons gegen die Anstifter und Aufreizer warf, mußte er gleichzeitig auch in der eigenen Partei dem Übereifer der Antimilitaristen in den Weg treten, Hervé vor allem, der damals so laut und gellend zur Revolte rief, wie er heute täglich nach dem »endgültigen Siege« schreit. Jaurès war über ihnen allen, er wollte keine Revolution, weil auch sie nur mit Blut zu erringen war, und er scheute das Blut. Er glaubte, Schüler Hegels, an die Vernunft, an den sinnvollen Fortschritt durch Beständigkeit und Arbeit, das Blut war ihm heilig und der Völkerfriede sein religiöses Bekenntnis. Kraftvoller, unermüdlicher Arbeiter, der er war, hatte er die schwerste Pflicht auf sich genommen, der Besonnene zu bleiben in einem leidenschaftlichen Land, und kaum daß der Friede bedroht war, stand er wie immer aufrecht als Posten, Alarm zu rufen in der Gefahr. Schon war der Schrei in seiner Kehle, der das Volk Frankreichs aufrufen sollte, da warfen sie ihn hin aus dem Dunkel, die ihn kannten in seiner unerschütterlichen Kraft und die er kannte, in ihren Absichten und Abenteuern. Solange er wachte, war die Grenze gesichert. Das wußten sie. Und erst über seine Leiche stürmte der Krieg, stießen die sieben deutschen Armeen nach Frankreich hinein.

Quelle: https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/histpers/chap006.html